Mittwoch, 17. Oktober 2012
Verkehrsverbund
Aus der Diaspora
Herdecke: Auf dem Bahnsteig von sonntäglichen Ausflüglern umspült trifft mich mal wieder die Erkenntnis, dass ich schüchtern bin. Nur wenige Meter entfernt sitzt eine bezaubernde junge Dame mit fliederfarbenen Stiefelchen und unterhält sich angeregt mit ihrer Freundin. Da ich es nicht über mich bringe sie anzusprechen, werde ich nie erfahren ob sie nur vergessen hat die Preisschilder von den Sohlen ihrer neuen Schuhe zu entfernen, oder ob sich um Anweisungen für den Schmied handelt, wenn sie beschlagen wird. Ich beschimpfe mich selbst als Vollidiot, womit wenigstens das Ergebnis gewahrt bleibt.

Retter der Nebenbahnen

Wenig später fährt der historische Schienenbus ein, dem dieser Auflauf gilt. Über den „Teckel“ geht es durch die Hinterhöfe und sogar über die Straßen von Gevelsberg und Ennepetal. Höhepunkt ist der Kruiner Tunnel, der Straßen- und Schienenverkehr dient. Während die Autos per Ampel ausgesperrt werden, durchquert der Zug, über die in der Straße eingelassenen Gleise, den Tunnel.

Ich bin dabei, weil ich meine Ruhr.Topcard ausnutzen will. Sie berechtigt, unter anderem, dazu an dieser Tour kostenlos teilzunehmen. Einfache Fahrt. Ein Schelm der böses denkt. Um niemanden einem Verdacht auszusetzen begleitet Herbie mich. So entere ich den Steuerwagen, der zwar keinen Motor, dafür aber ein Fahrradabteil hat. Was ich auch allen ungeräderten empfehlen kann, die eine derartige Tour machen möchten. Eine Tagesreise mit Dr. Brumm im Uerdinger hatte uns sehr deutlich gemacht, warum der Retter der Nebenbahnen auch gern als roter Brummer tituliert wird. Danach waren wir auch ohne Velo gerädert.

Ob der relativen Ruhe kann ich den Gesprächen der Mitreisenden lauschen. So versucht ein etwa zwölfjähriger Junge seine Mutter dazu zu bewegen, ihm beim Zugbegleiter einen Kakao zu holen. Die ist auch bereit ihre Geldbörse zu öffnen, aber zu mehr auch nicht. Der hin und her wogende Dialog erinnert mich an ein Mannbarkeitsritual wilder Völker, wo die Mutprobe darin besteht dem Zugbegleiter entgegen zu treten um ein Heißgetränk zu erwerben. Ab Gevelsberg wünsche ich mir, dass er endlich in die Gemeinschaft der Erwachsenen aufgenommen wird. Es wird nervig. Den Zug verlässt er an der Endstation immer noch als Knabe.

Ennepetal: Das kurze Stück vom Bahnsteig zur Kluterhöhle trägt der frisch entfaltete Herbie mich. Weil es bis zur nächsten Führung noch eine Stunde dauert, lasse ich den Programmpunkt fallen. Als man mir sagt, dass es doch nur eine viertel Stunde ist, hat sich an der Kasse bereits eine Schlange gebildet. Und Höhlen voller wilder Tiere zu begehen lehne ich ab.

Zurück geht es teils über Hauptverkehrsstraßen, teils auf der Rückseite von Gevelsberg die Ennepe entlang. Die Herbstsonne hat einiges von ihrer Kraft eingebüßt, doch sie strengt sich noch einmal richtig an und taucht die Szenerie in weiches Licht. Anfänglich begegne ich dem Schienenbus auf seinem Rückweg, später höre ich nur noch, wie er sich quäkig hupend seinen Weg bahnt.

Keine Straßenbahn

Hagen: Immer wieder erkenne ich Ecken, wo ich schon mit dem einheimischen Dr. Brumm war. Allerdings bewege ich mich senkrecht zu den bekannten Wegen, immer entlang des Talkessels. Nicht die vom Auto mit Leichtigkeit genommen Hänge hinauf, welche den Fahrradverkehr schon vor Jahren in Hagen aussterben ließ.

Mein Ziel ist das Kunstquartier. Hier hat man an historische Osthaus einen überdimensionalen Glas- und Betonquader geflanscht, der schon äußerlich die verschiedenen Stile der ausgestellten Kunstwerke darstellt. Ich bezahle einen geringen Aufpreis um alle Etagen zu besichtigen und darf mir dafür einen Punkt ankleben. Quasi die Manifestation des neuen deutschen Pragmatismus, ein Kastenzeichen der kulturellen Avantgarde. (Ja, ich durfte als Kind „100 Meisterwerke“ im Ersten schauen.) Im Altbau klassische Gemälde, im Neubau energische Linien auf großformatiger Leinwand. Ich erkenne beides sofort als Kunst. Und auch an. Aber besser gefallen haben mir dann doch die Gebäude.

Kultur. Punkt.

„Sie dürfen ihre Jacke hier nicht über dem Arm tragen. Entweder anziehen oder an der Garderobe aufhängen. Ist eine neue Vorschrift.“ Während ich mich ins Fleece wande, überlege ich zu fragen, ob ich denn die Hände in die Tasche stecken darf, oder ob bestimmte Atemtechniken vorgesehen sind. Andererseits könnte dies als Sarkasmus missverstanden werden und zu sofortigem Hausverbot führen. Der Museumsshop verschafft Linderung.

Wenig später geht es weiter in Richtung Herdecke. Eine Brücke überquert die Gleisanlagen vorm Hauptbahnhof. Über der Halle steigt eine riesige Wolke auf. Was wirkt, als hätten die kofferbombenden Ingenieursstudenten Nachhilfe genommen, entpuppt sich als der Museumszug in Richtung Bochum-Dahlhausen.

Früher heute

Wetter Herbie ruht inzwischen im Kofferraum, er hat seine Schuldigkeit für heute getan. Ich bin auf dem Weg zum Harkortsee, als ich eins dieser großen Bodenschachspiele passiere, wie sie früher in vielen Freizeiteinrichtungen angelegt wurden. Zwei Männer fortgeschrittenen Alters sind in ihre Gedanken vertieft. Ihr Blick ist unverwandt aufs Spielfeld gerichtet. Anfangs erscheint es ungewöhnlich, dass sie nebeneinander sitzen, was aber dadurch erklärt wird, dass sie als Spielfiguren lediglich zwei Bierflaschen haben.

Die MS Friedrich Harkort gleitet über den nach ihr benannten See. Der Diesel wummert gleichmäßig und die tief stehende Sonne glitzert auf den Wellen. Die Wasservögel gehen emsig ihrem undurchsichtigen Treiben nach. Ich sitze an die Reling gelehnt und könnte jeden Augenblick einschlafen. „Summertime, and the living is easy…“

"Wasser Strass!"  "Jawoll, Kapitän Swarovski"

Auf dem Heimweg begegne ich der großen Schwester, die dabei ist ihren Spaziergang zu beenden. Ein unbeholfenes Wendemanöver später nimmt sie den Beifahrersitz des nun stehenden Wagens ein und wir reden über den Tag. Wobei die Adjektivierung des Wagens mit „stehend“ sich als vorschnell herausstellt. Fußgänger und ausparkende Autos erfordern wiederholtes Korrigieren.

Andere Sonntage dürfen sich hieran gern ein Beispiel nehmen.

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