Freitag, 1. Juli 2011
Herbie und Lisbeth
Aus der Diaspora
Werl: Wenn man ab einem gewissen Alter morgens aufwacht und es tut nichts weh, dann ist man tot. Als der Wecker heute (Montag) um sechs die Nacht beendet, fühle ich mich sehr lebendig. Die Grundlage dafür wurde vierundzwanzig Stunden früher gelegt. Vor dem Fenster ergoss sich ein prächtiger Landregen. Aus den tiefhängenden grauen Wolken regnete es Bindfäden. Genau das richtige Wetter um mit einem guten Buch den Tag auf der Couch zu verbringen. Ich war zum Radfahren verabredet. Man hatte mich mit Essen geködert, deshalb kam eine Absage nicht in Frage.

Irgendwann hört der Regen schlagartig auf. In den Packtaschen befindet sich alles für den Fall, dass er wiederkommt. Weil ich keinen kompromittierenden braunen Streifen auf der Rückseite haben möchte darf Herbie mit. Der hat Schutzbleche. Der weitere Verlauf wird zeigen, dass bei der Wahl der Waffen mehr Sorgfalt von Nöten ist.

Hach! Wie goldig.

Duisburg: Lisbeth und Herbie wurden einander noch nicht mal vorgestellt und liegen schon miteinander in der Kiste. Wobei Quasimodo sich nur ungern als Kiste bezeichnen lässt. Wir zerren beide aus dem Kofferraum und behängen sie mit diversen Taschen. Bis auf den grünen Cordbeutel. Beim Beladen war er noch da. Und ist es jetzt immer noch. An eine Wand im Herzen des Ruhrgebiets gelehnt. Einsam und verlassen. Pandora veranlasst fernmündlich seine Rettung durch einen Nachbarn. Mit meinem Handy, da ihres in dem grünen Cordbeutel ist.

Nachdem die Katastrophe abgewendet ist verteilen wir meinen Wasservorrat auf beide Räder (ihres ist im grünen Cordbeutel) und rollen los. Heute halte ich mich aus der Navigation raus, da eine langjährige Duisburgerin führt. Etwas nervös vernehme ich: „Das müsste eigentlich da lang gehen.“ Das lässt sich vorab nicht verifizieren, da die Karte im grünen Cordbeutel steckt. Wir versuchen unser Glück und landen wie gewünscht am Rhein. Diesig und wolkenverhangen bildet der Himmel eine trübe Kulisse für die grauen Riesen der Schwerindustrie. So mag ich mein Ruhrgebiet.

Und wo ists eigentlich am Rhein so schön?

Am Rheinufer: Hier werden alle Wünsche eines Mannes erfüllt. So werde ich Zeuge eines anmutigen Ausdruckstanzes, in dem die Protagonistin sich wiegt und windet und den Kampf des Menschen symbolisiert, Sand von den Füßen zu spülen und diese dann zu trocknen, bestrumpfen und beschuhen. Die Kulturhauptstadt 2010 ist in seinen Bewohnern tief verwurzelt.

Später am Tag werden die ursprünglichsten, animalischsten Triebe des Mannes befriedigt. Sanft spielt das Wasser des Rheins mit seinem Ufer, aufgewühlt von Frachtschiffen die ihrem jeweiligen Ziel entgegen streben. Schmutzig graue Industrieanlagen bilden die Kulisse und Autos bollern auf der Straßenbrücke ihr Lied. Wir sitzen auf alten Betonbrocken und essen Kuchen. Was will man mehr?

Und während wir uns durch immer mehr Gegend albern („Sind Vögel die in Durchgängen brüten eigentlich Tornister“ und „Wenn wir das Boot da mit Brötchen bewerfen, ist das dann Das Frühstück der Ruderer?“) kommt die Sonne raus. Der Himmel ist blau und das Gras saftig grün. Ich gebe Pandora meine Kamera, um ein Foto zu machen. Ihre Kamera ist ja im grünen Cordbeutel.

Orsoy: Ich bekomme von einer Frau eine Schiffsreise geschenkt. Damit habe ich meinen Durchbruch als Gigolo des internationalen Jetsets geschafft. Mit diesem Hochgefühl rolle ich am anderen Rheinufer von der Fähre. Später verrechnet sich die Frau von der Happenstube um vierzig Cent zu meinen Gunsten. Beschließe dieses Startkapital in ein Deo zu investieren und eine Karriere als berüchtigter Heiratsschwindler zu starten. Ernte mehr als skeptische Blicke.

Hach! Wie ... Ach ne, hatten wa schon.

Ruhrort: Wo sich die Ruhr in den Rhein ergießt, legen wir eine letzte Rast ein. Nicht (nur) weil ich ein Gentleman bin zahle ich die Getränke. Ich bin halt der einzige, der eine Geldbörse dabei hat. (Erwähnte ich bereits das Malheur um den grünen Cordbeutel? Was aber eigentlich ganz gut war, da sich die Faltaxt und das Handy mit der Kettensägen-App ebenfalls darin befanden. Und damit außerhalb der Reichweite der gerne so genannten Turnbeutelvergesserin.) Die Liegestühle sind viel zu bequem um sich aus ihnen zu erheben. Und zu sperrig um sie unauffällig mit dem Rad zu verschleppen. Schweren Herzens lassen wir sie zurück.

Bissigheim: Wir sind am eigentlichen Ziel angekommen. Nach sechzig Kilometern hocke ich vor den Hamburger Happen und habe das Gefühl, mein Alter wäre identisch mit der Tageskilometerleistung. Und dass diese eindeutig zu niedrig angesetzt ist. Beim Endspurt zum Auto lupft Herbie nochmal frech das Vorderrad. Er könnte noch weiter, bräuchte dazu aber einen Motorwechsel. Pandora und Lisbeth sind dagegen nicht nur frischer verteamt sondern auch sonst frischer. Aber wenigstens caritativ gesinnt. Also mal wieder ein Tag, an dessen Ende ich gebeutelt geschafft aber zufrieden ins Bett fallen konnte.

P.S.: Hatte ich eigentlich schon erzählt, wie ich ein kostspieliges und dringend benötigtes Elektrogerät bei einem norddeutschen Kunden vergaß und dieses nur durch eine Stafette zweier Kollegen rechtzeitig zurück expediert werden konnte?

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