Montag, 11. Juli 2011
Gute Nacht
Aus der Diasporae.stahler, 15:34h
Castrop-Rauxel: Jonglage ist eine alte Kunst, mit der schon mittelalterliche Gaukler ihr Publikum zu unterhalten wussten. Das in die Luft werfen und fangen von Gegenständen ist noch immer bewundernswert, doch das Spiel mit der Schwerkraft bildet hauptsächlich den Rahmen für allerlei Scherze. Dieser Clown hält sieben Bälle in Händen und kündigt an: „Jetzt für die Erwachsenen: Neun Bälle in der Luft!“ Anschließend springt er einmal hoch. Der Navigator und ich werden ihn diese Nacht noch häufiger zitieren.
Die artistische Beckenbodenübung bildet den Auftakt für die Fortsetzung einer jahrzehntealten Tradition, die heute in die dritte Runde geht: Extraschicht. (Für alle die sie nicht kennen: Heute sind überall im Ruhrgebiet zwischen 18.00 Uhr abends und 2.00 Uhr morgens ehemalige Fabrikanlagen und sonstige Kulturbetriebe geöffnet. Während dessen finden allerlei Darbietungen statt.) Wir beginnen unsere Nacht im Parkbad Süd. Kein klassischer Industriebetrieb, aber man feiert inzwischen zehnjähriges Bestehen als Kulturstätte. Böse Zungen behaupten wir würden hier starten, weil es Kuchen für umsonst gibt.
Während der Clown am Boden des ehemaligen Schwimmbeckens mit seinen Bällen spielt, gibt es auf der Liegewiese die Ausstellung „Besetzt“. Dafür wurden etwa zwei Dutzend Mobilklos aufgestellt, in denen es allerlei Wissenswertes zum Thema gibt. Als ich eine der Kabinen öffne, ist bereits besetzt. Reflexartig schließe ich die Tür, die aber gleich wieder auffliegt. „Kommen ‚se ruhig rein. Ist Platz genug.“ Finde ich für die Örtlichkeit, oder besser: das Örtchen, dann doch unpassend.
Bochum: Wer beim Bochumer Verein an den VfL denkt, liegt leider daneben. Hier ist der Andrang größer als bei einem der Heimspiele, hier bebt die Erde! In der Radreifenschmiede hat man eine Extraschicht eingelegt und produziert auch diese Nacht. Durch das offene Hallentor beobachten wir, wie der Schmiedehammer auf den glühenden Stahl saust. Und spüren es in unseren Füssen. Um uns das aus der Nähe zu besehen, müssten wir uns in die hundert Meter lange Schlange einreihen. Da noch mehr lockt, ziehen wir weiter.
Mit der nahen Jahrhunderthalle haben wir noch keinen Frieden geschlossen und lassen sie links, rechts, links liegen. Stattdessen besichtigen wir den örtlichen EDEKA. Die Wanddekoration zeigt alles, was man vom Ruhrgebiet zu kennen glaubt. Anschließend diskutieren wir über Menschenwürde und geschlossene Kassensysteme, also wo die Kassiererinnen kein Geld anfassen dürfen, und die gute alte Zeit, als es im Aldi noch keine Scannerkassen gab.
Essen: Das Zentrum des kulturellen Universums im Ruhrgebiet heißt: Zollverein. Wir nähern uns dem Komplex von der Kokerei her. Und zu Fuß. Viel zu Fuß. Parkplätze sind rar und schon gar nicht vor der Tür. Aber wir wussten ja, auf welche Nachtwanderung wir uns einlassen. Die Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel ist zwar kostenlos, aber wegen totaler Überfüllung keine Alternative.
Auf den langen Werksstraßen tobt etwas, was ich spontan mit Monty Python’s Flying Circus tituliere. Von weitem ist ein lautsprecherverstärktes Kauderwelsch aus Englisch, Deutsch und Russisch zu hören, unterlegt von Motorengebrumm. Drei recht skurrile Flugmaschinen drehen unter Einsatz von reichlich Feuer und Pyrotechnik ihre Runden. Echt faszinierend in der einbrechenden Dunkelheit. Durch lautstarke Böller und diverse Scharniere wird die Explosion der Luftflotte angedeutet. Am Ende der Vorstellung zündet man heimtückisch eine Konfettibombe um mit Hilfe des Propellers das herbeiströmende Publikum zu panieren.
Als wir zum Zechengelände hinüber schlendern kommen wir aufs Wetter. In T-Shirt und kurzer Buxe ist es immer noch angenehm warm. „Wenn Engel reisen…“ kommt es vom Navigator. „Ja“ antworte ich, „es müssen wirklich welche unterwegs sein.“ Später rollen wir durch Essen, die Ellenbogen im offenen Seitenfenster von einem lauen Lüftchen umweht. Ich lege die passende Musik auf, und sofort startet das Gemecker vom Beifahrersitz. Perfekte Momente kann man einfach nicht planen.
Oberhausen: Schon letztes Jahr durften wir nicht auf den Gasometer. Die Feuerwerker mussten aufbauen. Diesmal kommen wir nicht einmal in seine Nähe. Egal, ist ja nicht so, ob es sonst nichts gibt.
Bottrop: Der Bernepark ist eine ehemalige Kläranlage, wobei ihre aktive Zeit noch nicht allzu lange vorbei zu sein scheint. Es stinkt stellenweise. Vor allem am Eingang stinkt es etlichen. Die beiden jungen Damen am Tor halten ganze Busladungen in Schach, da nur eine begrenzte Anzahl an Personen aufs Gelände darf. Atemberaubend argumentiert sich der Navigator an ihnen vorbei und ich folge ihm, in seinen Bann und an meinem T-Shirt gezogen.
Im zweiten, trocken gelegten, Klärbecken spielen ein Keyborder und ein Schlagzeuger. Attraktion ist Fred Feuersteins Lichtorgel. Junge Damen tanzen mit Fackeln zur Musik, unterstütz von reichlich Feuerwerk und Pyrotechnik. Die Jungs von Rammstein würden feuchte Augen kriegen.
Hinter mir läuft Familienunterhaltung:
Tochter 1: „Mach dich mal klein, ich kann nichts sehen.“
Tochter 2: „Ich sehe auch nichts.“
Tochter 1: „Dann kannst’e dich ja klein machen.“
Der Vater hebt Tochter 1 hoch.
Tochter 1: „Halt mich fest, ich glaube ich falle.“
Vater: „Ich halte dich fest.“
Tochter 1: „Halt mich richtig fest, aber locker. Mama, kannst Du dich hinter Papa stellen, falls der umfällt?“
Mutter: „Warum soll Papa den umfallen?“
Warum finden die beiden Acts nur gleichzeitig statt?
Hattingen: Jetzt ist Schicht. Viertel vor zwei schlagen wir an der Henrichshütte auf. Hier ist das Programm für heute gelaufen. Wir schauen zu dem schwarzen Hochofen hinauf.
Spätestens am 30. Juni geht es weiter. Extraschicht 2012.
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